Grenzland–Niemandsland

Joachim Giesel, Grenze Wildeck/ Ortsteil Obersuhl (aus der Dokumentation Grenzland–Niemandsland), Wildeck in Hessen, 1980.

„Vorsicht Minen auf sowjetzonalem Gebiet“. „Halt hier Grenze. Bundesgrenzschutz“. Die beiden Schilder neben dem Ortsschild von Wildeck/Ortsteil Obersuhl lassen keinen Zweifel daran, wo wir uns befinden. Zweihundert Meter weiter endet die Eisenacher Straße, die einst Ober- und Untersuhl miteinander verband, abrupt an der deutsch-deutschen Grenze. Hinter Stacheldraht und Wachturm sind auf Giesels Photographie im Osten noch die Konturen der Untersuhler Rundkirche auszumachen. Am rechten Straßenrand stehen vier Reihenhäuser der 1930er Jahre, auf deren Satteldächern alle Antennen so ausgerichtet sind, daß sie Westfernsehen empfangen. Bei den meisten Häusern sind jedoch die Rolläden runtergelassen und es gibt nichts, was darauf schließen ließe, daß hier noch jemand wohnt. Warum auch? 1962 errichtet die DDR hier einen Stacheldrahtzaun, der 1978 durch Selbstschußanlagen ersetzt wird. Zur absurden Realität des Grenzverlaufes gehört, daß er vor den letzten fünf Häusern diagonal über die Straße verläuft, weswegen für die Anwohner nur über den Bürgersteig Zugang zu ihren Häusern besteht – ansonsten laufen sie Gefahr, widerrechtlich zur DDR gehörendes „Niemandsland“ zu betreten. Erst 1976, im Rahmen eines Gebietsaustausches zwischen BRD und DDR, wird die gesamte Straße zu Bundesgebiet erklärt. Es wird noch einmal 25 Jahre dauern, bevor am 9. Dezember 1989 die Grenze öffnet und die Eisenacher Straße wieder frei von Obersuhl nach Untersuhl befahrbar ist. An der Stelle, wo Giesel seine Aufnahme machte, steht heute eine Kamera – ein Blitzer.

Martin Schieder